100 Jahre Burgenland – Oliver Rathkolb im Sautanz-Interview (Teil 2)

Im zweiten Teil unseres Interviews mit dem Zeithistoriker Oliver Rathkolb sprachen wir über die Beziehung des Burgenlands zur Europäischen Union und zum Nachbarn Ungarn, die ambivalente Rolle Wiens sowie das Nord-Süd-Gefälle.

Oliver Rathkolb Burgenland

 

Sautanz: Das Burgenland hat ja von Nord bis Süd eine relativ enge wirtschaftliche Verflechtung mit Wien bzw. dem Wiener Becken. Was sind die historischen Gründe dafür?

Oliver Rathkolb: Das ist sicherlich ein Erbe der Monarchie. Österreich-Ungarn hatte im Vergleich mit anderen europäischen Ländern eine verspätete Industrialisierung. In einigen Gebieten, wie in Nordböhmen, Mähren oder Oberösterreich war man sehr kompetitiv, sehr modern und aufgeschlossen – wenngleich dazwischen sehr stark agrarisch geprägt. In Ungarn war diese Struktur aufgrund des Großgrundbesitzes und der gewichtigeren Bedeutung des Adels in der Politik noch viel stärker als in der österreichischen Reichshälfte ausgeprägt. Deswegen gab es schon eine frühe Arbeitsmigration in den Wiener Raum bzw. das Wiener Becken bis Wiener Neustadt. Noch lange in die Zwischenkriegszeit hinein funktionierten die Verkehrsverbindungen nach Wiener Neustadt wesentlich besser als vom Norden in den Süden des Burgenlandes. Die Stadt Sopron/Ödenburg hat als zentrale Bildungs- und Verwaltungsmetropole im damaligen Deutsch-Westungarn alle Infrastrukturlinien an sich gezogen. Die Arbeitsmigration, die sich in Wien und im Wiener Becken entwickelt hat, ist sicherlich ein Überbleibsel aus der urbanen Industrialisierungsmetropole Wien in der Zeit der Monarchie und setzt sich bis heute kontinuierlich fort.

 

Ist die Sozialisierung vieler Burgenländerinnen und Burgenländer im „roten Wien“ auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die SPÖ seit bald 60 Jahren den Landeshauptmann stellt?

Das ist eine interessante Frage, die man sich mit Wählerstromanalysen genauer anschauen müsste. Leider gibt es die für das Burgenland nicht in dieser Form. Deshalb kann ich nur eine ungeschützte Antwort geben: die ÖVP hatte ja bis weit in die 1960er Jahre hinein den Landeshauptmann gestellt. Ich glaube, dass der SPÖ die massiven Investitionen im Bildungs- und Infrastrukturbereich in der frühen Kreisky-Ära mehr genützt haben, als das Arbeitsmigrations- oder Pendlerthema. In den 1970er Jahren hat das zu heftiger Kritik geführt, weil ganze Dorfansichten und Strukturen durch die Modernisierungsbestreben zerstört wurden. Dazu gibt es ein legendäres ORF-Interview zwischen Theodor Kery und Helmut Qualtinger, wo diese massive Veränderung der Dörfer kritisiert wird. Offenbar war das der Preis der Moderne. Der SPÖ hat dieser Fokus wohl sehr genützt. Das Burgenland kam aus der Peripherie Ungarns und wurde unter Verlust des intellektuellen und wirtschaftlichen Zentrums Sopron noch mehr an den Rand gerückt. Das burgenländische Bildungswesen aus der Zwischenkriegszeit, das haben wir in unserer Ausstellung sehr gut dokumentiert, war schlichtweg katastrophal. Das hat sich auch unmittelbar nach 1945 nicht besonders geändert. Dieser überzeugend umgesetzte Reformwillen im Bildungsbereich der Ära Kery/Sinowatz war sozusagen auch für Kreisky ein Vorzeigemodel.

 

Oftmals wird die Nähe zu Wien als Hauptargument für die wirtschaftliche Überlegenheit der nördlichen Bezirke gegenüber den Bezirken südlich des Geschriebensteins angeführt. Lässt sich dieses Nord-Süd-Gefälle auch aus anderen Gründen erklären?

Was mir im Zuge der Vorbereitungen der Ausstellung so erstmals offensichtlich wurde, ist die im Verlauf der Geschichte entstandene Bildung von Subidentitäten innerhalb des Burgenlandes. Klassisch dem Muster von Nord-, Mittel- und Südburgenland entsprechend. Das ist für mich ein Faszinosum, dass so etwas in einem recht kleinen, aber unglaublich im Längsschnitt ausgedehnten Bundesland existiert. Ich glaube ebenso, dass sich diese drei Subidentitäten im Zuge der unterschiedlichen ökonomischen Entwicklung herauskristallisierten. Wenn man sich die in der Ausstellung thematisierten, historischen Migrationsströme aus den geographischen Teilen des Burgenlandes ansieht, sticht der Süden an erster Stelle heraus.

Einen zweiten Grund verorte ich in der fehlenden Nord-Süd-Verbindung in puncto Eisenbahn, die letztendlich nur Stückwerk blieb. Das historische Zentrum Deutsch-Westungarns war Sopron/Ödenburg, wo sich als Knotenpunkt die wichtigsten Verkehrsverbindungen trafen. Als Ersatzmaßnahme wurden enorme Anstrengungen im Straßenbau in der Zwischen- wie Nachkriegszeit unternommen, um diesen infrastrukturellen Mangel zu beheben. Trotzdem bleibt es in der Gegenwart mühsam, wenn eine Fahrt von Güssing nach Eisenstadt an schlechten Tagen bis zu zwei Stunden dauern kann. Da bin ich fast in derselben Zeit von Wien nach Salzburg mit der Bahn gefahren. Diese Wechselwirkungen auf verschiedenen Ebenen können wohl als Grund für die Bildung dieser drei Subidentitäten angeführt werden.

Dies erklärt auch die unter dem Landeskulturrat Gerald Mader vorangetriebenen Aktivitäten ein gemeinsames burgenländisches Kulturband zu legen, mit dem Zweck mehr Kohärenz und kulturelle Identität im Land zu bestärken. Ein Beispiel hierfür ist das Studienzentrum für Frieden und Konfliktforschung in Stadtschlaining, welches bewusst nicht in Eisenstadt sondern im Südburgenland angesiedelt wurde. An solchen Initiativen werden sich auch die nächsten Landesregierungen richten müssen, denn die Sogwirkung Wiens hat neben der unbestritten positiven auch negative Seiten auf die Entwicklung des Burgenlands.

 

Das Burgenland grenzt als einziges Bundesland an Ungarn. Wie würden Sie die Beziehung zwischen dem Burgenland, das ja bis 1918 ein Teil Transleithaniens war, und Ungarn beschreiben?

Eine durchaus komplexe Beziehung. In den Anfangsjahren der Ersten Republik gab es einige sehr blutige Auseinandersetzungen aufgrund von Aktivitäten ungarischer Freischärler. Diese verfolgten die klare Absicht, die Bestimmungen der Pariser Vororte-Verträge, im konkreten Falle Ungarns im Vertrag von Trianon festgehalten, zu sabotieren und rückgängig zu machen. Nach dem Venediger Abkommen im Jahr 1921 konzentriert sich der burgenländisch-ungarische Austausch auf den kleinräumigen Grenzverkehr, verwandtschaftliche Beziehungen wurden – soweit es ging – aufrecht erhalten. Was man sich in Erinnerung rufen sollte: zur damaligen Zeit war die ungarische Minderheit im jungen Burgenland weitaus größer als das heute der Fall ist. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden sämtliche ethnischen Minderheiten im Burgenland verfolgt, die Roma und Sinti wurden beinahe vollkommen ermordet. Neben der politischen Verfolgung von Angehörigen ethnischer Minderheiten, gab es tatsächlich geäußerte Überlegungen seitens Vertreter des NS-Regimes, die ungarische Minderheit ins ungarische Territorium überzusiedeln.

In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges trat eine Phase der relativen Ruhe ein. Erst mit dem Ungarischen Volksaufstand 1956 änderte sich die Situation schlagartig, als über 200.000 Ungarn und Ungarinnen über das Burgenland in den Westen flüchteten. Die burgenländische Bevölkerung bewältigte die Asylaufgaben in diesen Wochen mit Bravour. In den Jahren bis zum Ende des Eisernen Vorhanges unter dem Regime von János Kádár herrschte eine Periode politischen Tauwetters vor, beispielsweise waren Reisemöglichkeiten wieder gegeben. Nach 1989 entspannte sich die Situation relativ deutlich – abgesehen von einzelnen politischen Debatten seit dem Antritt von Premierminister Viktor Orbán. Im Vergleich mit der konfliktbeladenen Situation zwischen Ungarn und Rumänien, kann konstatiert werden, dass die historischen Konflikte im Verhältnis Österreich-Ungarn keine ernsthafte Rolle in der Gegenwart mehr spielen. Die Entwicklung in Richtung einer transnationalen Europaregion wie zwischen den ehemaligen Erbfeinden Deutschland und Frankreich wäre im Falle Österreich-Ungarns eine interessante Entwicklungsmöglichkeit mit großem Potential. Einer stärkeren Hinwendung zur Europäischen Union seitens Budapest wäre dem Ganzen dienlich, auch wenn man aktuell einen anderen Eindruck ob der politischen Entwicklung gewinnen mag.

 

Welche Rolle spielt der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995 für das Burgenland?

Die Europäische Union löste einen gigantischen Infrastrukturschub für das Burgenland aus. Diverse Projekte im Tourismussektor zeugen davon, wenn man sich die Co-Förderungen durch die EU vor Augen führt. Bei EU-relevanten Umfragen in Österreich ist die burgenländische Bevölkerung sehr pro-europäisch eingestellt. Ein wenig ein Versäumnis verorte ich während der Beitrittsphase Österreichs, als dieser Gedanke an einer grenzüberschreitenden Euroregion mit Ungarn eine eher untergeordnete Rolle spielte. Das deckt sich mit meinem Eindruck, dass die Europäische Union keine durchdachte Langzeitstrategie verfolgt. Aus mir unerfindlichen Gründen verläuft sich die EU in viel zu vielen bürokratischen Details und die handelnden Personen sehen sprichwörtlich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Gegenwärtige Beispiele sind die Krisen in der Ostukraine und in Bosnien-Herzegowina.

 

Zum Abschluss eine Frage an Sie als Historiker mit dem Schwerpunkt auf Zeitgeschichte: Welche Fehler aus den letzten hundert Jahren sollten wir als Gesellschaft in den nächsten hundert Jahren vermeiden?

Genau mit dieser Frage beschäftigt sich die Ausstellung im letzten Raum. Im Zentrum stehen Bildungsprojekte burgenländischer Schülerinnen und Schüler aus der Gegenwart, wohin die Zukunft des Burgenlands gehen könnte. Die zentrale Botschaft heißt: Bildung, Bildung, Bildung. Das Burgenland – und ich kann mich an dieser Stelle nur wiederholen – ist ein Musterbeispiel für die Wichtigkeit von Bildung in jeder Dimension: gesellschaftlich, kulturell und natürlich auch ökonomisch. Zahlreiche Indikatoren wie Maturaquote, individuelle Karriereverläufe, gestiegene Einkommen wie Kaufkraft spiegeln diese positive Gesamtentwicklung wider.

In einem Schauraum werden die Innovationen von im Burgenland ansässigen Unternehmen beleuchtet. Ein Beispiel handelt etwa von einer LED-Lampe, die im Burgenland entwickelt wurde. In diesem Unternehmen arbeiten heute bereits Absolventen der Fachhochschule Pinkafeld. Das zeigt ausdrücklich: wer in der Zeit einer dynamischen Globalisierung bestehen möchte, muss permanent in Bildung investieren. Dies ist auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Debatte um Klimaschutz und -krise zutreffend. Die burgenländische Geschichte lehrt uns, welch positiven Entwicklungen durch einen breiten Bildungsschub ausgelöst werden können. Hier ist das Burgenland zweifellos ein Role Model.

 

Sautanz Word-Shuffle:

Glück

Zufriedenheit

Fußball

Leiden mit Rapid Wien

Föderalismus

Stärke und Schwäche Österreichs zugleich

Helmut Qualtinger

Einer der kreativsten Köpfe der Zweiten Republik

Solipsismus

Selbstverliebtheit bis zur Selbstaufgabe

Sautanz

Wie ich gelernt habe eine burgenländische Tradition 😊

 

Hier geht’s zum ersten Teil des Interviews mit Oliver Rathkolb.

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